Keine Zeit für Heimweh

Deutschland und Tschechien haben sehr viel gemeinsam, nicht nur die Grenze, sondern auch Geschichte.

Dieser Artikel stammt von Barbora, AFS-Austauschschülerin in Deutschland 2002/03.

Am Anfang wollte ich mich gleich bei dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfond für mein Stipendium herzlichst bedanken, wozu ich noch keine Möglichkeit hatte. Wären Sie auf so eine tolle Idee nicht gekommen, hätte ich höchstwahrscheinlich diese Möglichkeit nie bekommen und mein Leben wäre anders. Dank euch habe ich eine neue Kultur und vor allem mich selbst kennen gelernt und verstanden.

Es ist langsam soweit und die Mitte meines Aufenthaltes in Deutschland rutscht näher. Damit ist die Pflicht verknüpft, diesen Bericht zu schreiben. Ich tue das aber gerne, weil es auch für mich eine Gelegenheit ist, zusammenzufassen, was ich hier bisher erlebt und gelernt habe. Endlich kann ich mir auch die Zeit nehmen, um über meine vielen neuen Erfahrungen ruhig zu überlegen.

Es scheint noch zu früh zu sein, in der Mitte bewerten zu wollen, ich bin aber schon jetzt fest davon überzeugt, dass diese Reise ins Unbekannte mein Leben verändert hat. Ich habe das Gefühl, dass mir jetzt die ganze Welt offen steht. Vorher war ich nur im kleinen Tschechien, höchstens als Tourist irgendwo gereist und ganz zufrieden damit. In Deutschland habe ich aber eine neue und sehr unterschiedliche – obwohl beide Staaten sehr nah beieinander liegen - Kultur kennen gelernt. Damit hat sich meine Sichtweite sehr verbreitet und ich will jetzt viel mehr von der Welt sehen und verstehen.

Wenn ich erwachsen werde, werde ich versuchen, gegen die beidseitigen Vorurteilen zu kämpfen. Ich war sehr überrascht und enttäuscht davon, was ich sogar von jungen Leuten gehört habe – zuerst in Tschechien über Nazis in Deutschland und danach hier, ob ich Russin bin, wenn ich aus Prag komme. Solchen beschränkten Leuten sollte man empfehlen, die Kultur kennen zu lernen, bevor sie solche Sachen sagen. Ich habe das gemacht und werde versuchen, meine Erfahrung an die Leute weiterzugeben und Ihnen die Augen öffnen. Deutschland und Tschechien haben sehr viel gemeinsam, nicht nur die Grenze, sondern auch Geschichte.

Meine Gastfamilie hat mich vom Anfang an sehr offen und freundlich angenommen und ich habe hier bald mein zweites Zuhause gefunden. Eigentlich habe ich nur meine Schwester, die jetzt ihr Austauschjahr in Spanien verbringt, in allem ersetzt, sogar in ihrer Schulklasse und ihrem Freundeskreis.

Meine Gastmutter ist eine unglaublich liebe Frau und die wichtigste Person für mich in Deutschland. Sie arbeitet als Lehrerin und ist deshalb oft Zuhause und hat immer Zeit mit mir über die verschiedensten Themen zu diskutieren. Mein Gastvater ist mit seiner Arbeit und anderen Tätigkeiten sehr beschäftigt. Trotzdem findet er oft Zeit, mit mir Sport zu machen und ist sehr hilfsbereit.

Mein Gastbruder ist drei Jahre jünger als ich. Unsere Beziehung hat sich schon sehr gut entwickelt und wir machen echt viele Sachen zusammen. Es ist für mich etwas ganz Neues, einmal nicht die Kleinste der Familie zu sein, mein eigener Bruder ist nämlich zehn Jahre älter als ich.

In der Schule war es am Anfang ein bisschen schwierig, weil ich erst einen Monat nach dem Schulanfang in Niedersachsen hierher gekommen bin. Mein Deutsch war nach acht Jahren Deutschunterricht in Tschechien auf so gutem Niveau, dass ich gleich alles verstehen konnte. Um besser zu sprechen brauchte ich ein bisschen Zeit, aber bald ging es auch gut. Das hat mir unwahrscheinlich geholfen, nicht nur in der Schule. Mittlerweile bin ich im Unterricht schon ganz drin. Nächste Woche bekomme ich mein erstes deutsches Zeugnis, auf dem keine schlechtere Note als drei auftaucht. Wenn es so schön weitergehen würde, könnte es am Ende des Schuljahres sogar noch besser sein.

Ich habe hier schon viele Freunde gefunden, sogar meine beste Freundin ist jetzt eine Deutsche. Mit AFS habe ich dann Kontakte zu Leuten aus der ganzen Welt.

Die Zeit hier läuft für mich unglaublich schnell, vor fast fünf Monaten bin ich nach Deutschland gekommen und immer noch scheint es, als wäre es gestern gewesen. Ich habe so viele neue Leute, Orte, Sitten und Gedanken gesehen (gehört), wie in den letzten fünf Jahren insgesamt nicht. Es macht Spaß und eigentlich habe ich gar keine Zeit, Heimweh zu haben. Natürlich gibt es auch bei mir Momente, in denen nichts klappt und man überlegt, ob es das überhaupt wert ist, hier zu sein. Immer bin ich aber dazu gekommen, dass es sich mehr als lohnt!

Barbora