Para.. was? Paraguay?

Ein Austauschjahr ist mehr als Reisen. Es bedeutet, in das Leben seiner Gastfamilie und neuen Freunde einzutauchen, daran teil zu haben und es schätzen zu lernen.

Para.. was? Paraguay? Ahh, Paraguay! Schön, aber bitte, wo liegt das denn? Irgendwo in Amerika, oder? Da fährst du echt hin? Hilfe, ein Jahr? Schüleraustausch? Na denn... ?

Meine Freunde, Verwandten, Bekannten und eigentlich fast jeder sah mich mit leicht fragendem Blick an, als ich ihnen eröffnete, dass ich im Rahmen eines Schüleraustausches für ein Jahr in Südamerika, genauer gesagt Paraguay, leben würde. Vielen kam die Auswahl meines Landes ziemlich abenteuerlich vor, aber gerade das war es wohl, was mich besonders reizte.

Nicht, dass ich mir nicht vorstellen konnte, ein schönes Jahr in den USA zu verbringen, aber ich hatte den Wunsch in eine mir völlig fremde, für uns exotisch anmutende Kultur eintauchen zu können. Ich war enthusiastisch und glücklich, als nach langer Zeit des Wartens endlich feststand, dass mein Wunsch, für ein Jahr ganz woanders leben zu können, in Erfüllung gehen würde. Doch ehrlich gesagt, das Einzige was ich zu diesem Zeitpunkt über und aus Paraguay kannte war Roque Santa Cruz, derzeit Fussballspieler beim FC Bayern München.

Paraguay, das war für mich ein Land, ein Name, mehr nicht. Ohne Bedeutung, ohne jegliche Bilder die mir sonst in den Kopf schiessen, wenn ich einen Begriff höre.

Und doch mit grosser Bedeutung. Meine neue Heimat. Ein Jahr, in dem ich unzählige Bilder und Eindrücke sammeln werde. Nie wieder wird mein Kopf leer sein, wenn ich das Wort Paraguay höre.

Jetzt wirst du meinen, dass dein Kopf immer noch keine Vorstellungen über den Begriff Paraguay enthält. Aber vielleicht hilft mein kleiner Bericht, dass man dir, das nächste Mal wenn dich jemand anspricht, diese Frage nicht aus den Augen ablesen kann. Paraguay?

Nun, dort, genauer gesagt in Asunción, der Hauptstadt, die zusammen mit ihren Vororten ungefähr eine 1 Million Einwohner zählt, wohne ich. Mittlerweile schon seit mehr als acht Monaten. Meine Gastfamilie gehört zu der reicheren Oberschicht des Landes. Das heisst, sie gehöhrt zu dem etwa einen Prozent (1%!) der insgesamt sechs Millionen Menschen zählenden Bevölkerung, die es sich leisten kann auf dem durchschnittlichen Niveau der westlichen Industrieländer zu leben.

Wir, meine Gasteltern, meine beiden Gastschwestern (13 und 16 Jahre) unser Pudel und ich, leben in einem für deutsche Verhältnisse ziemlich grossen Haus mit eigenen Swimmingpool, Hausmädchen, Gärtner und Internetanschluss. Für paraguayische Verhältnisse ist das eine echte Luxus-Villa, denn der Grossteil der Menschen hier hat gerade so viel Geld, dass sie zusammen mit ihren Familien in kleinen, sehr einfachen Häusern leben können. Diese sind nicht zu verwechseln mit dem, was wir in Deutschland als "normales Haus" bezeichnen. Damit besitzen sie alles, was zum Leben wirklich nötig ist. Mehr nicht.

Die Statistik sagt, dass 1/6 der Bevölkerung hier in Armut lebt und eine Million Menschen in extremer Armut. Das bedeutet, dass sie morgens nicht wissen, wie sie auch nur an die nötigsten Grundnahrungsmittel kommen werden.

Mit dem Elend vor Augen werde ich schon nachdenklich und frage mich, warum man eigentlich meint, sich genau diese Schuhe kaufen zu müssen, die so unverschämt viel kosten, dass eines der Limonade verkaufenden Kinder Monate dafuer arbeiten müsste, um auch nur annähernd so viel zu verdienen. Mit diesen Kindern vor Augen, die uns jeden Tag in Omnibussen und an Kreuzungen Süssigkeiten verkaufend oder Autofenster putzend begegnen, haben wir Austauschschüler beschlossen unser Möglichstes zu tun, um zu helfen, dass sich an dieser Situation so bald wie möglich etwas ändert.

So gehen einige von uns jetzt einmal die Woche in ein sehr armes Viertel von Asunción und zeigen den Menschen dort zum Beispiel, wie man sich richtig die Zähne putzt. Es mag zwar am Elend der Leute wenig ändern, aber wir hoffen, dass wir zumindest einen kleinen Teil beitragen können, damit die Menschen hier optimistischer in Zukunft blicken können. Das können wir tun, um den grossen Rest müssen sich das Volk, die Völker und vor allem Politiker kümmern.

Da ich mich für einen Schüleraustausch und nicht für ein Jahr Urlaub entschieden habe, verbringe ich die meiste Zeit meines Aufenthaltes hier in der Schule. Diese beginnt gegen 8 Uhr früh und oft kommen ich und meine Klassenkameraden des 2. Kurses (wie bei uns hier die 11. Klasse heisst) erst gegen 17.00 Uhr nach Hause. Das ist auf den Rest des Landes bezogen aber keinesfalls die Norm, denn meine Schule ist eine Privatschule und man sagt hier sogar eine der besten des Landes. Nur reiche Familien können es sich erlauben, die sehr hohen Schulgebühren für ihre Kinder zu bezahlen. Im Gegensatz zu vielen anderen öffentlichen, aber auch privaten Schulen, ist das Leistungsniveau dafür aber mit dem von deutschen Schulen zu vergleichen.

Ansonsten ist Schule, so wie eigentlich auch alles andere hier, oft aber einfach anders als in Deutschland. Nicht besser, nicht schlechter, einfach anders. So singen wir zum Beispiel jeden Montag und Freitag Morgen vor dem Unterricht nach Klassen und Geschlechtern aufgereiht die Nationalhymne. An diesen Tagen müssen alle Schüler in der offiziellen Schuluniform, das heisst Mädchen in Faltenrock und weisser Bluse, Jungen in Bügelfaltenhose, weissem Hemd und Krawatte, erscheinen. Wenn das Hemd nicht korrekt in der Hose steckt, wird man streng darauf hingewiesen, dass doch bitte sofort in Ordnung zu bringen...

Aber neben Schule im eigentlichen Sinne bedeutet Schule hier für mich viel mehr. Ich habe die Chance, mir neue, bisher unbekannte Fächer auszuprobieren, täglich neue Vokabeln und Phrasen zu hören und auf diese Weise nach und nach mein Spanisch zu verbessern. Das Wichtigste ist aber natürlich, dass ich viele junge Leute in meinem Alter kennenlerne und so Freundschaften schliessen kann.

Ein Grossteil meiner Klassenkameraden, oder besser, eigentlich ein Grossteil der Latinoamerikaner insgesamt, besitzt genau zwei Eigenschaften: Herzlichkeit und Offenheit. Diese machen es leicht, sich hier schnell wohlzufühlen, Freunde zu finden und sich einzuleben. Ob beim ersten Kontakt mit der insgesamt riesigen und lauten Verwandschaft oder am ersten Tag in der neuen Schule, ich wurde freundlich und interessiert begrüsst, ausgefragt und manchmal sogar schon zum nächsten Event eingeladen. Auch wenn man die Menschen kaum kennt, man fühle ich mich nicht ausgeschlossen, sondern stets willkommen.

In einem Shoppingcenter hier (ähnlich den riesigen Shopping-Malls in den USA, nur kleiner), in der Etage wo man Fastfood- Restaurants findet und zur Animation der Menschen manchmal Künstler auftreten, fiel mir einmal ein Schild in die augen: "Tanzen verboten". Dieses Schild ist für mich das beste und einfachste Mittel, die Mentalität der Menschen hier zu beschreiben. Sie sind immer zum feiern aufgelegt und wo Musik ist, da tanzt man, ob am Tag oder tief in der Nacht, ob bei Feiern in der Schule oder weil es "Tag der Jugend" ist, wenn die entfernteste Tante der riesigen Verwandtschaft Geburtstag hat oder auch ganz ohne Grund. Hier trifft man sich freitags, weil Freitag ist. Ihre Kondition, egal ob Mann oder Frau, und ihr Rhytmus sind beeindruckend. Man feiert.

Die Paraguayer leben hier und heute und auch wenn man sich für dieses Heute etwas vorgenommen hat, kann man es ja immer noch morgen machen. Hektik? Ich glaube, dieses Wort existiert hier nicht. Wenn man sich mit jemandem trifft, kommt man grundsätzlich mindestens eine halbe Stunde zu spät oder man kommt gar nicht, weil man sich überlegt hat, dass man doch eigentlich besser etwas anderes tun könnte. Ohne sich abzumelden. Den anderen anrufen? Wenigstens dass würden wir Deutschen doch erwarten. Knapp daneben. Weder noch. Daran muss man sich der korrekte Deutsche auch erst einmal gewöhnen...

Wir mögen das unzuverlässig nennen. Aber so sind sie nun mal. Ich kann und will sie mir nicht anders vorstellen. Ich würde gerne einmal wissen, was ein Paraguayer wohl über einen Deutschen denkt, der eine Viertelstunde zu früh am Treffpunkt eintrifft!

Bis heute habe ich bereits über acht Monate im Herzen Südamerikas verbracht. In dieser Zeit sind mir die Menschen hier ins Herz gewachsen. Ich habe eine für mich fremde, aufregende Kultur kennengelernt und mich dem Lebensstil der Paraguayer angepasst. Bräuche und Lebensweisen, die mir anfangs noch neu und exotisch erschienen, gehören jetzt zu meinem täglichen Leben und sind mein Alltag.

Auch wenn ich weiss, dass ich die nächsten Jahre meines Lebens im kalten Deutschland verbringen werde, werde ich mich, wenn sich die Möglichkeit ergibt, so oft es geht wieder auf den Weg in meine neue, zweite Heimat machen.

Paraguay - ein Name, ein Land. Und noch viel mehr.

Katharina H.