Estland - Ein kleines Land erfüllt große Träume

Als ich in Estland ankam, war ich unglaublich glücklich und hatte gar kein Heimweh, weil ich mich so sehr darauf gefreut hatte und so überwältigt von allem war. Ich habe mich für Estland entschieden, weil ich eine neue Sprache lernen wollte und nirgendwohin wollte, wo die Kultur sehr verschieden ist. Letztendlich muss ich sagen, dass es hier ganz anders ist, als ich es mir vorgestellt hatte.

Musik, Musik, Musik!

Die Esten sind ein sehr musikalisches und kulturelles Volk. Der Schulchor ist groß und sehr beliebt und es kann wirklich jeder singen. Andauernd muss man Gedichte auswendig lernen und vortragen. Im Herbst hatten wir ein „Gedichte-Café“ und sogar ich musste meinen Teil dazu beitragen und nicht nur Kekse essen. Solche schulischen Aktivitäten, wie auch eine Abschiedsparty für die Abiturienten, werden mit Freude von Freiwilligen geplant. Die Schule ist meiner Meinung nach generell sehr unterschiedlich von meiner deutschen. Die Fächer und der Lernstoff sind ähnlich, aber die estnischen Schüler gehen sehr viel respektvoller mit ihren Lehrern um. Unter anderem steht man auf, wenn der Lehrer in den Raum kommt. Allerdings nennt man ihn/sie nicht beim Namen, sondern ruft einfach „Õpetaja“ (=Lehrer), wenn man Hilfe braucht. Ich glaube ich kenne kein Land, in dem die Schule so viel bedeutet wie hier in Estland. Ständig kommen ehemalige Schüler zu Besuch, fast monatlich gibt es Events, bei denen man die Schulhymne(!!) singt und man „heiratet“ sogar seine Schule, indem man bei einer Zeremonie seinen Schulring mit eingraviertem Namen überreicht bekommt.

Technikverliebt? Aber sicher!

Die estnische Sprache wird immer als sehr schwer dargestellt, da sie 14 Fälle hat, welche aber einfacher zu lernen sind, als die ganze deutsche Grammatik, da sie hauptsächlich aus Präpositionen bestehen und es im Estnischen keine Artikel gibt. Auch zwischen männlich und weiblich wird nicht unterscheiden. Viele Wörter stammen aus dem Deutschen, wie zum Beispiel „loss“ (=Schloss), „tükk“ (=Stück) und „kleit“ (=Kleid). Wenn sich Leute auf Estnisch streiten oder beschimpfen, kann man es kaum ernst nehmen, da es so süß klingt. Es macht echt Spaß Estnisch zu lernen, weil die Esten es toll finden, wenn man sich für sie und ihr Land interessiert.

Wie nur wenige wissen, wurde Skype von Esten erfunden. Hier ist alles sehr modern und High-Tech. Im größten Teil der Tallinner Altstadt gibt es kostenloses W-LAN und in Cafés und Restaurants sowieso. Handys sind in den Schulen nicht nur erlaubt, sondern oft auch notwendig, wenn man sich zum Beispiel in Englisch eine App herunterladen soll oder in Geschichte mit der ganzen Klasse ein Online-Quiz macht. Dafür gibt es dann in der Schule W-LAN. Hausaufgaben und Noten werden über das Internet vergeben und von Exkursionen und Ausflügen werden Bilder auf Facebook hochgeladen.

Estland ist mit 45000 km² zwar ein sehr kleines Land, aber auf jeden der 1,3 Millionen Einwohner stolz. So wird man auch immer verbessert, wenn man 1 Million sagt. In diversen sozialen Netzwerken merkt man dann, wie wenig Leute das wirklich sind. So habe ich herausgefunden, dass die beste Freundin einer anderen Austauschschülerin meine Gastcousine ist.

Kartoffeln, Models und Schüchternheit

Falls euch jemals jemand sagen sollte, dass Deutsche viele Kartoffeln essen, dann schickt denjenigen nach Estland. Teilweise mehrmals am Tag wird man mit allen möglichen Variationen von gebratenen, gekochten und gebackenen Kartoffeln verwöhnt. Falls man mal keine Kartoffeln isst, gibt es Sour Cream. Das war für mich echt überraschend, denn wenn ich mit meiner deutschen Familie mit Sour Cream gekocht habe, dann war da meistens nur ein Esslöffel in der Soße, damit diese cremiger wird. Hier ist es die Soße. Es gibt auch unzählige verschiedene Arten von Süßigkeiten, die ich jetzt gar nicht erst aufzählen werde. Ich verstehe nicht, wie die Menschen, trotz all diesem kalorienreichen Essen immer noch so gut aussehen können. Meiner Meinung nach ist selbst ein „unterdurchschnittlicher“ Este (natürlich Ansichtssache) immer noch „überdurchschnittlich“ in Deutschland. Viele Mädchen, die ich kenne, modeln nach der Schule und die meisten Jungs sind echte Gentlemen. Was Körpernähe betrifft sind die Esten sehr zurückhaltend. Es wird, außer in Beziehungen, kaum umarmt, außer an seinem Geburtstag, wo man wirklich überhäuft wird. Ich finde das schön, denn dadurch bekommen Umarmungen eine größere Bedeutung. Die Esten sind unglaublich schüchtern, nach einiger Zeit aber, können sich echte Freundschaften entwickeln und man kann offen über alles Mögliche reden.

Nationalhymne im Unterricht

Ein sehr patriotisches Volk sind die Esten auch. Im Musikunterricht singt man die estnische Hymne und fast jede Familie hat mindestens eine Flagge zuhause, die man an Feiertagen stolz den Nachbarn präsentiert. Dieser Patriotismus war am Anfang ziemlich komisch für mich als Berlinerin und das hat auch zu einer merkwürdigen und ein wenig peinlichen Situation geführt. Wir haben verschiedene Komponisten und deren bekannteste Stücke durchgenommen und eins davon kam mir ein bisschen bekannt vor. Ich hab mich umgeschaut und alle meine Mitschüler haben mich angestarrt. Ich hab meinen Sitznachbarn gefragt, was los ist und er meinte, dass das doch die deutsche Nationalhymne ist. „Nein, das stimmt nicht“, habe ich geantwortet und im nächsten Moment habe ich gemerkt, dass er Recht hatte. Alle Esten waren total erschüttert, dass ich meine eigene Hymne nicht wiedererkannt habe, aber in Deutschland singt man die ja auch kaum. Die Estnische ist inzwischen eins meiner Lieblingslieder geworden und ich kann sie auswendig, was man von der Deutschen immer noch nicht behaupten kann.

In den neun von zehn Monaten sind mir viele Leute sehr ans Herz gewachsen und ich wünschte ich müsste mich nie von ihnen allen verabschieden. Leider ist es bald soweit und ich werde meinem zweiten Leben hier Tschüss sagen. Meine Gastfamilie ist die beste Gastfamilie, die ich je hätte bekommen können. Meine Gastschwester ist wie eine richtige Schwester für mich und ich werde nie dieses Glücksgefühl vergessen, das in mir hochkommt, wenn meine Gastmutter mir morgens an der Tür alles Gute wünscht und mir nachguckt, bis sie mich nicht mehr sieht.

Lea (YFU)