Intensivkurs Leben

"Wie war's denn?" und "Ist aber schön, dass du wieder da bist, oder?" fragen mich Verwandte, Nachbarn, die Frau an der Brötchentheke, Lehrer, Mitschüler und sogar Leute, die sich nie für mich zu interessieren schienen. Und sie alle erwarten, dass ich ihre Fragen in einem möglichst knappen Satz beantworte. Doch das, was ich in China alles erleben durfte, lässt sich nicht in ein paar Worte fassen.

Ich heiße Maren, bin 17 Jahre alt und habe ein Jahr – "mein Jahr" – in Shanghai verbracht! Mein Jahr begann bereits vor der Abreise: Am Telefon versuchte ich meiner Freundin zu erklären, wie glücklich ich über die Zusage war. Bei all dem, was die Medien so über China berichten, war es schon irgendwie schwierig sich ein eigenes Bild vom Reich der Mitte zu machen - und ich war überglücklich, dass ich das im Austauschjahr tun könne.

In dem halben Jahr bis zur Abreise hatte ich dann immer wieder das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen, nach China zu gehen. Nur wenige verstanden mein Interesse und meine Neugier. Doch im Mai bei der Vorbereitungstagung (VBT) lernte ich alle anderen China-Fahrer kennen und wir – die "Goees" und die "Ehemaligen" – verbrachten eine wunderschöne Zeit mit vielen tollen Erlebnissen in Mühlhausen. Wie wichtig die VBT für mich war, erkannte ich erst später während meines Auslandsjahres. Jedenfalls war ich nach der VBT hochmotiviert und konnte die Abreise nicht mehr erwarten.

Der Abschied war irgendwie leichter als gedacht. Ein mulmiges Gefühl hatte ich zwar schon, aber die Neugier und die Lust, nach China zu reisen und etwas Fremdes zu entdecken, überwogen dann doch.

Der Sprachkurs mit anderen Austauschschülern in den ersten 4 Wochen in Nanjing war mehr von Spaß als vom Chinesisch lernen geprägt, was uns allen aber nicht geschadet hat ;) In den ersten Wochen waren wir Austauschschüler auch viel zu sehr mit den Besonderheiten chinesischer Sanitäranlagen, der Kunst mit Stäbchen zu essen und der unerträglichen Hitze und teilweise gewaltigen Monsunregen beschäftigt. In der Gastfamilie habe ich mich während des Sprachkurses nicht so wohl gefühlt. Ich fand ihre Art und den Tagesablauf, ja eigentlich irgendwie alles, komisch und zerriss mir mein Maul über die "komischen Sitten". Doch als ich sie ein halbes Jahr später wieder besuchte, verstand ich, dass nicht ihr Verhalten "komisch" gewesen ist, sondern dass ich es nicht verstanden hatte.

Auf solchen Irrwegen befand ich mich während des Jahres öfter. Einmal wurde ich sogar von zwei netten Polizisten nach Hause gebracht, weil ich mich als deutsches Dorfkind den chinesischen großstädtischen Gepflogenheiten doch nicht schnell genug anpassen konnte :)

In den ersten Wochen fühlte ich mich, als sei ich in einem Theaterstück gelandet, in dem alle außer mir den Text kennen. Umgeben von Tausenden von Menschen fühlte ich mich doch sehr allein. Angestarrt, weil es für Chinesen schwer verständlich ist, dass man wirklich blaue Augen haben kann und Haare auch ohne Färbemittel blond sein können. Entsetzt über Rülpsen am Tisch. Schockiert über den Druck, der auf meinen Mitschülern lastet. Eingeengt von Regeln und Vorschriften in der Schule und in der Gastfamilie.

Meine Rolle in China zu finden, war der schwierigste Teil des Auslandsjahres, doch im Nachhinein betrachtet, war es auch der wichtigste und wertvollste. Es ist schwierig Dinge, nicht als "gut" und "schlecht" zu bezeichnen. Doch im Endeffekt ist es einfacher eine fremde Kultur als „anders“ zu bezeichnen, als sich ein Schwarzweißbild mit klaren Vorstellungen von Gut und Böse zu machen.

Mit dem Erlernen der Sprache konnte ich mich schließlich viel besser in den Alltag integrieren und diesen Verstehen. Durch die Sprache öffnete sich mir die Tür zum Reich der Mitte und Dinge, die ich mir vorher nie hätte träumen lassen, waren plötzlich Bestandteil meines Alltags, der mir immer besser gefiel.

Mir schmeckte chinesisches Essen plötzlich ausgezeichnet und ich nahm sogar zu, nachdem ich in den ersten Wochen abgenommen hatte, weil mich das Umgehen mit Stäbchen restlos überforderte und mir der Mut fehlte, alles zu probieren. Ich kaufte an heruntergekommenen Ständen Milchtee und Haarspangen und bewies den Händlern, dass auch Ausländer feilschen können ;) Ich traf mich mit Klassenkameraden, die anfangs immer gesagt hatten, sie seien zu beschäftigt, um sich mit mir zu treffen. Die Morgengymnastik in der Schule gefiel mir, nachdem ich sie zuvor immer verflucht hatte. Ich unterhielt mich mit Baozi-Verkäufern und Nudelziehern, die mich vorher nur gemustert und über mich getuschelt hatten.

Mir wurde klar, wie nett und herzlich die Menschen sind, die ich vorher als egoistisch, stur, komisch und freiheitsraubend bezeichnet hätte. Ich war überglücklich Teil von Shanghai zu sein. Die Mixtur aus Anonymität der Großstadt Shanghai und ein sehr familiäres Leben in meinem Viertel machte mich glücklich.

Dann war es auch schon vorbei, das Jahr zwischen Verkehrschaos und überordentlichen Parks, zwischen Hochhäusern in der City und klapprigen Hütten am Stadtrand. Mein Jahr unter hochmotivierten Schülern und denen, die dem Leistungsdruckruck nicht standhielten. Ein Jahr mit vielfältigen Möglichkeiten und ständiger Kontrolle, mit Heimweh und Genießen des Augenblicks.

Mein Auslandsjahr war ein sehr intensives Jahr. Ich habe geweint und doppelt so viel gelacht. Es war das beste Jahr meines Lebens, in dem ich lernte daran zu glauben, dass Probleme lösbar sind. Danke an meine Austauschorganisation! Danke an meine Eltern und alle anderen, die mich haben "machen lassen", um meinen Weg zu finden.

Maren

(Austauschjahr 2008/2009, YFU)