Wenn man schon mal drüben ist... oder Warum ich nie in Chicago war

Der Titel dieses Beitrages sagt bereits alles. Unser Tip: unbedingt lesen!

Hört man den Gesprächen ehemaliger Austauschschüler zu - besonders denen, die gerade dem Flugzeug aus den USA mit 'Destination Germany' entstiegen sind - so bekommt man schnell mit, wie sich die, die etwas verbindet, zusammenfinden. Die gegenseitigen Fragen wechseln schnell vom unverfänglich-interessierten "In welchem Staat warst Du?" zu einem die-Augen-größer-werden-lassenden "Ach, nach New York bist Du auch gefahren!!!". Das war's; damit ist die mehrstündige - zugegebenermaßen nicht uninteressante - Diskussion unabwendbar, in der sich über Erlebtes in, auf und an den Sehenswürdigkeiten Amerikas ausgetauscht wird. Wenn man schon mal 'drüben' ist... Da kommen die Parfümkollektionen auf den Toiletten des Hardrock-Cafés genauso zur Sprache wie die wundervolle Bedienung in einem New Yorker Fachgeschäft für Räucherkerzen, die nun zum Insidertipp prädestiniert sind. Danach hat man zumindest die Gewissheit, dass sich die Reise gelohnt haben muss, denn was hat man nicht alles gesehen!

Ich gehöre nun zu einer Randgruppe, die bei derartigen Gesprächen nicht (viel) mitreden kann. Über das Hardrock-Café in Orlando kann ich mich ebenfalls auslassen - ich war schließlich da, allerdings in Verbindung mit drei aufeinanderfolgenden Tagen in Disney World (eine einmalige Erfahrung). Ich habe zwar mein Austauschjahr in Indianapolis verbracht, nur drei Autostunden oder einen mittleren amerikanischen Katzensprung entfernt von Chicago, aber dahin haben mich meine Reisen auf den Interstates nie geführt, obwohl ich doch im Staat mit dem Spitznamen 'Crossroads of America' gewohnt habe, der zumindest eine gewisse Reisefreudigkeit der Einwohner suggeriert... Nach Washington, New York, St. Louis, Philadelphia bin ich leider auch nicht gekommen.

Leider? Bei meiner Liste muss man an die besuchten Orte jeweils das Staatenkürzel anhängen, da es sie wahrscheinlich mehrfach in recht ähnlicher Ausführung in den USA gibt: Louisville, KY, McMinnville, TN, Bowling Green, OH, Charleston, IL... Orte, die, wenn ihre Namen fallen, nur selten wiedererkannt werden oder bei deren Erwähnung die wenigsten ein vernehmliches "Is' doch schön dort, nicht wahr?" ausstoßen. Dass ich nie in Chicago war - wo es doch so nahe liegt - gab mir während des Austauschjahres zu denken. Ist es nicht selbstverständlich, mir diese Stadt zu zeigen? Bin ich normal? Ist meine Gastfamilie normal?

Normal war sie ganz bestimmt nicht. Für mich war und ist sie etwas besonderes, weil sie mich eben nicht zu den weltbekannten 'must-have-seens' geschleppt hat. Sicherlich sind The Arch, das Lincoln Memorial oder die Statue of Liberty eine Reise - aber kein Austauschjahr - wert. Wäre ich nicht in den McMinnvilles, Charlestons und Louisvilles der USA gewesen, hätte ich mich während der Autofahrten nicht stundenlang mit Mom über mehr als Gott und die Welt unterhalten können. Hätte ich sie nicht begleiten können, wenn sie ihre 85jährige kranke Mutter besucht hat, die sie längst nicht mehr als ihre Tochter erkannt hat. Hätte ich nicht zuhören können, wie meine Mom meinem Dad auf der Reise nach Tennessee ganze Bücher vorgelesen hat, damit er beim Autofahren nicht einschläft (es hat, glaube ich, funktioniert).

Selbst wenn der Name des neuen Wohnortes nicht viel verspricht - da er entweder selbst 'nichts zu bieten' hat oder zu weit entfernt ist vom Amerika der Touristen - so kann er dennoch ein Symbol für die Heimat werden, die mit der Ankunft im August zu existieren beginnt und die im Juli des darauffolgenden Jahres längst nicht zu Ende sein muss. Oft hört man von den Hoffnungen zukünftiger Austauschschüler, die gern in eine Großstadt platziert werden wollen, aber der Wunsch "Hätte gern Familie in Los Angeles" ist eine denkbar schlechte Herangehensweise an interkulturellen Austausch. Zugegeben, so geben sich die wenigsten Austauschschüler. Dennoch - die Bedenken sind nicht gerade klein, wenn sie zunächst einige Zeit benötigen, um den Wohnort ihrer Gastfamilie auf der Landkarte zu finden.

Aber wissen wir nicht längst: ein Ort wird erst durch die Menschen, die ihn bewohnen, zu einer Heimat. Was nützt es, nach einer Reise tagelang vom sooo viel aufregenderen Miami erzählen zu können, einem aber doch niemand der Gastfamilie zuhört, da man sich eigentlich nicht wirklich gut versteht? Und ist es nicht besonders herausfordernd, in einem Ort der Rocky Mountains aufgenommen zu werden, der bis dahin noch nie mit einem Austauschschüler in Berührung gekommen ist und der einen mit demselben Interesse verfolgen wird wie sonst nur den Präsidenten?

In den zwei Jahren seit meiner Rückkehr habe ich es noch zweimal geschafft, in die USA zu fliegen. Mit einer 'sehenswerten' Stadt hat es wieder nicht geklappt, nicht einmal als Zwischenlandung auf dem Flughafen. In McMinnville, TN war ich noch einmal. Bei der Abreise habe ich versprochen wiederzukommen. Chicago kann warten!