Kulturschock ist wie eine Entdeckungsreise

Tobias berichtet über sein Austauschjahr. Eine sehr spannende Erzählung, die einen Einblick in ein Austauschjahr gibt, dessen Privileg nur sehr wenige haben. Danke an Tobias!

Japan bedeutet Schock, Kulturschock wie ihn wohl auch die anderen neun deutschen Austauschschüler mehr oder weniger intensiv erfahren haben, die sich vorbildlich vorbereitet mit der Organisation Youth for Understanding (YFU) im März 1999 ins Abenteuer Austauschjahr auf Japanisch begaben.

Trotz meiner vorausgegangenen, monatelangen Beschäftigung mit dem Land und sogar der japanischen Sprache in Volkshochschulkursen, drängte es sich mir nach der Ankunft auf dem Narita International Airport in Tokyo auf: Tatsächlich funktionierte das Wenigste so, wie man es von zu Hause gewohnt ist oder wie ich es erwartet hätte, obwohl ich die letzten Wochen vor der Abreise versucht hatte, am besten keinen träumerischen Vorstellungen mehr nachzugehen, die ja doch nur enttäuscht werden könnten.

Wie ich später feststellen sollte, war der sogenannte Kulturschock in Bezug auf Japanisches - an den ich vorher nicht so recht geglaubt hatte - während der Akklimatisierungswoche im ehemaligen olympischen Dorf Tokyos natürlich noch abgemildert. Andererseits verbrachte ich die Tage des Wartens auf die zukünftige Gastfamilie, die ich bereits durch ein paar Briefe kannte, mit zahlreichen YFU-Austauschschülern aus der ganzen Welt und damit aus vielen verschiedenen Kulturen. Und ich meine aus der ganzen Welt, denn u.a. aus den folgenden Ländern waren junge "Botschafter" vertreten: Australien, Neuseeland, USA, Kanada, Philippinen, Korea, England, Niederlande, Schweden und Finnland. Zusammen erhielten wir also die letzten Weisungen und Ratschläge aus erster Hand, wie man sich angemessen in einen Platz als Gaijin, als "Außenmensch" in der japanischen Gesellschaft einfügen sollte, so widersprüchlich das zunächst erscheinen mag.

Nachdem mir auf dem Air-France-Flug von Köln/Bonn bis Paris und von dort gemeinsam mit einer YFU-Begleiterin nach Tokyo schon über zehn Stunden Zeit zur Verfügung gestanden hatten, übte ich nun in der Kantine weiter, wirklich undefinierbare, aber durchaus schmackhafte Speisen zwischen die rutschigen Stäbchen zu klemmen. Einschlägige Ansichten über den Kollektivsinn der Japaner sah ich bestätigt: In aller Frühe fanden Morgenappelle von Schulungsgruppen irgendwelcher Unternehmen statt, wobei sich die Teilnehmer deutlich durch eine Uniform auswiesen. Eine Überraschung, mit der ich so konkret überhaupt nicht gerechnet hatte, erlebte ich beim Versuch der Körperreinigung am ersten Abend. Wie in Japan eigentlich üblich, gab es auf unserem Einzelzimmergang eine Gemeinschaftsnaßzelle - genannt "Ofuro" - in der ich mich schließlich auf einem kleinen Hocker vor einem Spiegel sitzend abduschte, um danach sauber in das sehr heiße Badebecken zu steigen.

Überdeutlich fielen mir in den ersten Tagen übrigens die unzähligen Getränkeautomaten an jeder Ecke auf, aus denen man sich mehrheitlich Kaffee in allen Variationen ziehen konnte. Ein wenig Koffein hätte ich angesichts des spürbaren Jetlacks gut gebrauchen können.

Meine Gastfamilie - ein sehr junges, noch kinderloses Ehepaar - und die sogenannten Area Representatives - die Betreuer der Austauschorganisation vor Ort - empfingen mich auf dem kleinen Flughafen der Präfekturhauptstadt Tottori. Vorausgegangen war die zwar bis dahin am meisten schockierende, aber deshalb nicht weniger interessante und positive Erfahrung, zusammen nur mit einem Engländer und einem Australier die einzigen "Außenmenschen" in einem ansonsten homogenen Flugzeug darzustellen. Daß wir die englischsprachige Zeitung "The Japan Times" überhaupt bekommen konnten, erschien uns bei dem größtenteils unverständlichen Gerede und dem geradezu erdrückenden Zeichensalat um uns herum wie ein Wunder. Wir ahnten bereits zu jenem frühen Zeitpunkt die Tatsache, daß in Tottori nur eine sehr begrenzte Anzahl von Ausländern lebt.

Mit meiner "Host Family" habe ich mich vom ersten Tag an sehr gut verstanden: Ebenso in praktischem Sinne kommunizierten wir die zwei Wochen vor dem Schulbeginn, während derer meine Gastmutter ebenfalls den ganzen Tag zu Hause war, mit meinen Brocken Japanisch, mit Händen und Füßen und über Englisch. Durch die Hilfe meiner überaus zuvorkommenden, offenen Gastfamilie lebte ich mich rasend schnell ein, so daß der anfängliche Kulturschock im Sinne des neuen Erlernens von Alltäglichem langsam abzuflauen begann.

Kulturschock bedeutet Spannung.

Kulturschock ist wie eine Entdeckungsreise.Meine Entdeckungsreise setzte ich fort an der Tottori Johoku Senior High School, in deren Turnhalle ich mich vor versammelter Schüler- und Lehrerschaft an meinem Einschulungstag zusammen mit einer Australierin kurz vorstellen mußte. In der Klasse Nr. 5 des zweiten Jahrgangs las ich dieselbe Selbstvorstellung noch ein zweites Mal ab, weil davon auszugehen war, daß die meisten Schülerinnen und Schüler nach den militärisch anmutenden Weisungen des Schulleiters schon stehend in Reih und Glied eingeschlafen gewesen waren. Und trotzdem wurden mir in den darauffolgenden Tagen und Wochen immer die gleichen Fragen wieder und wieder gestellt, die ich aber in den meisten Fällen mit meinem zu dem Zeitpunkt noch dürftigen Japanisch wohl nur unbefriedigend beantworten konnte. Um die Unterrichtsstunden von 8.35 Uhr morgens bis 15.30 Uhr nachmittags sportlich auszugleichen, trat ich schon bald dem Karate-Klub der Schule bei. Übrigens, die Johoku High School ist neben Baseball besonders für die angebotenen Kampfkünste Judo und Sumo-Ringen bekannt. Die Sumo-Ringer von gigantischer, respektverschaffender Größe verfügen über ein eigenes Trainingszentrum neben der besagten Turnhalle und haben es sogar bis auf den ersten Platz in ganz Japan geschafft. Dafür essen sie im Vergleich zu meinem bescheidenen, von zu Hause mitgebrachten "Obento" als Mittagstisch aber auch gleich die erstaunliche dreifache Menge! Sicher mußten ihre schwarzen Schuluniformen maßgeschneidert werden.

Wenn ich dann also jeden Abend nach zweistündigem, besonders in der Anfangszeit sehr kräftezehrendem Karate-Training mit dem Linienbus nach Hause kam, bereitete meine engagierte Gastmutter Midori auf Wunsch meines anspruchsvollen Gastvaters grundsätzlich immer Fisch und Fleisch für ein Abendessen zu. Das Haus meiner Gastfamilie befindet sich in Tottoris Vorort namens Fukube, der mit den größten Sanddünen Japans und den Plantagen von köstlichen Birnen touristisch bedeutsam ist. Wie der Name der Siedlung "Forest Garden" andeutet, ragen zur Landseite hin Berge mit dichtem Waldbestand auf.

Nach Abendessen und Abwasch habe ich meistens erschöpft auf dem Boden sitzend mit meinen Gasteltern zusammen Fernsehen geschaut. Wegen ihrer ehemaligen Tätigkeit als Nachrichtensprecherin und seiner Arbeit als Kameramann bei dem lokalen Fernsehsender hatten die beiden verständlicherweise eine besondere Beziehung zur Flimmerkiste. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich habe nie die perverse Fernsehshow "Takeshi's Castle" im echten japanischen Fernsehen gesehen, obwohl meine Gastmutter ein bekennender Fan von ihm ist. Je mehr ich im Laufe der Zeit Japanisch verstand, desto besser gefiel mir das japanische Fernsehen gegenüber dem deutschen Programm. Meine Lieblingssendung war eine Talkshow mit "Außenmenschen" wie mir als Gästen, die über Schwachpunkte ihrer neuen Heimat Japan sehr emotional diskutierten.

Nach den langen Sommerferien, die ich u.a. mit Strandleben, Angeln und dem Einüben des japanischen Regentanzes Shan-Shan zugebracht hatte, war mein Japanisch bereits so dem lokalen Dialekt angepaßt, dass ich bei der Entgegennahme von Telefonaten immer häufiger für meinen Gastvater gehalten wurde und die Gegenseite gleich einen Redeschwall auf mich losließ, der mich dann letztendlich doch entlarvte.

Kulturschock relativ

Erst als zwei siebenjährige deutsche Kinder aus Hanau in Tottori eintrafen, die für zwei Monate völlig ohne ihre Eltern bei einer neuseeländisch-japanischen Gastfamilie als Austauschschüler (!) leben sollten, wurden mir wieder die zahlreichen Unterschiede deutscher und japanischer Kultur vor Augen geführt. Die zwei heimwehgeplagten Grundschüler, um deren Betreuung ich für mindestens ihre erste Woche als weit und breit einziger Deutschsprechender gebeten worden war, fragten mich plötzlich über japanische Sitten aus. Aus meiner Sicht war aber - um nur ein Beispiel zu nennen - das Ausziehen der Straßenschuhe in nahezu jedem Gebäude dato völlig normal und ich hatte es auch längst nicht mehr bewußt wahrgenommen.

Der Austauschaufenthalt der kleinen Kinder, die nicht einmal Geschwister waren, entpuppte sich meiner Erwartung gemäß als verantwortungsloser Fehlversuch, so daß sie nach der Hälfte der vorgesehenen Zeit wieder abreisen durften. Für die kleinen Weltreisenden war es sicherlich eine unermeßlich hohe psychische Belastung, was sich in den durchheulten Nächten und täglich stundenlangen Überseetelefonaten nach Deutschland gezeigt hat.

Mein eigenes Heimweh hielt sich Gott sei Dank in Grenzen. Das lag wahrscheinlich mit daran, daß fast nie Langeweile aufkam. Beispielsweise finanzierte mir meine Privatschule die Teilnahme an einer Stufenfahrt nach Südkorea. Während jener viertägigen Flugreise verstärkte sich mein Zugehörigkeitsgefühl zu den Japanern, wobei mir zusammen mit meinen japanischen Klassenkameraden ein neuer Kulturschock dieses Mal in Bezug auf Korea widerfuhr. Das Land der Morgenröte unterscheidet sich nämlich unerwartet erheblich vom Land der aufgehenden Sonne.

Ein wenig später organisierte mir meine Gastmutter über ihre Verbindungen ein persönliches Treffen mit den Berliner Philharmonikern im Anschluß an ein Konzert, das sie im Rahmen ihrer Japantournee in der Stadthalle von Tottori gaben. An dem Abend durfte ich neben einzelnen Gesprächen sogar die Begrüßungsrede des einladenden Musikvereins ins Deutsche übersetzen. Gleich am darauffolgenden Wochenende lud mich der ältere Bruder meiner Gastmutter ein, mir in drei Tagen Tokyo zu zeigen. Das Angebot nahm ich begeistert an und erlebte so die Unterschiede der japanischen Mentalität in der Hauptstadt im Vergleich zu Tottori. Während man in der beschaulichen Stadt Tottori als "Außenmensch", der zudem Japanisch mit Dialekt spricht, einerseits in die Gesellschaft integriert war, aber andererseits tagtäglich nach dem Motto "Wow, ein Gaijin!" schief angeguckt wurde, fiel ich in Tokyo neben unzähligen anderen Gaijins gar nicht weiter auf. Das kann zur Abwechslung sehr erholsam wirken.

Aufgrund der Erfahrung des gespaltenen Daseins eines Gaijin liegt für mich das Wesen Japans, das ich hoffentlich auch Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, durch diesen Essay ein wenig näher bringen konnte, nicht mehr in der anfänglichen Ferne. Im Gegenteil, selbst nach meiner Heimkehr im neuen Jahrtausend empfinde ich Japan immer noch hautnah wie während meines zehnmonatigen Austauschaufenthaltes in diesem geographisch gesehen fernöstlichen Land.